Sammelst du nur oder lebst du auch? | 55-4
Himbeeren, Kartoffeln, Zucchini, Getreide, Trauben und viele weitere Früchte, Samen und Knollen werden erntereif. Die Gemüse- und Obstkörbe in den Supermärkten sind gefüllt mit den Ernten aus der Region. Der Reichtum an heimischen Früchten löst die Importe aus Spanien, Peru oder Ägypten ab.
Die Fülle der Erntezeit – sofern Regenmenge, Sonnenzeiten und Insekten das Wachstum begünstigen – fällt den meisten heute weniger auf als früher. Denn die Super-
märkte sind stets befüllt mit allem, was wir brauchen und noch mehr.
Zu den Zeiten Jesu war das anders: Das Angebot an frischen Lebensmitteln auf den Märkten hing von den Ernteerfolgen der Region ab. Jesus spricht in mehreren Gleichnissen von Bauern, ihrer Arbeit und ihren Ernten. Das waren vertraute Bilder und Situationen – mitten aus dem Leben.
Ein Gleichnis im Lukasevangelium, Kapitel 12, lautet so: „Die Felder eines reichen Grundbesitzers brachten eine besonders gute Ernte.17 Da überlegte er: ‚Was soll ich tun? Ich habe nicht genug Platz, um meine Ernte zu lagern.18 Schließlich sagte er sich: ,So will ich es machen: Ich reiße meine Scheunen ab und baue größere. Dort werde ich dann das ganze Getreide und alle meine Vorräte lagern.19 Dann kann ich mir sagen: Nun hast du riesige Vorräte, die für viele Jahre reichen. Gönn dir Ruhe. Iss, trink und genieße das Leben!20 Aber Gott sagte zu ihm: ‚Du Narr! Noch in dieser Nacht werde ich dein Leben von dir zurückfordern. Wem gehört dann das, was du angesammelt hast?21 So geht es dem, der für sich selbst Schätze anhäuft, aber bei Gott nichts besitzt.“
Der reiche Grundbesitzer macht es genau richtig: Er sorgt dafür, dass die überschüssige Ernte nicht verkommt, sondern bewahrt wird. Ganz unverschuldet hat sich sein Reichtum noch weiter vermehrt – eine reiche Ernte liegt zum größten Teil in den Händen der Natur. Die Freude und zufriedene Planung des Grundbesitzers wird von Gott unterbrochen und gestört.
Selbst, wer Glück hat und alles richtig macht und gut wirtschaftet, hat die Dauer seines Lebens nicht in der Hand. Es liegt nicht bei uns über unsere Lebenszeit zu entscheiden. Wir können uns dem Tod – wann er auch kommen mag – nicht entziehen.
Mit diesem Gleichnis veranschaulicht Jesus seine Warnung: „Gebt acht! Hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn auch wenn jemand im Überfluss lebt, so hängt sein Leben nicht von seinem Besitz ab.“
Was haben wir von dieser Warnung? Worum geht es Jesus, wenn er uns an unsere Vergänglichkeit erinnert? Gott spricht mitten in das Glück und die Fülle der Ernte: „Du Depp! Dir ist dein Leben nur begrenzt geschenkt. Es hat ein sehr viel schnelleres Ende, als du planst. Was bringt dir all das, was du im Leben angesammelt hast?“
Die rhetorische Frage lässt sich schnell beantworten: Mir selbst bringt all das nichts, mir wird dann nichts mehr davon gehören. Ich kann das Gesammelte nur vererben, hinterlassen für Menschen nach mir. Geht es darum, dass ich nur das habe, was ich selbst für meinen täglichen Bedarf brauche? Wie die Vögel am Himmel, die nichts säen und nichts ernten – so wie es Jesus an anderer Stelle sagt? Doch wir Menschen sind ja keine Vögel. Unsere Gesellschaft, unser Miteinander, würde nicht funktionieren, wenn wir nicht sammeln würden.
Also sammeln ja, aber „Hütet euch vor jeder Art von Habgier“. Also Sammeln ohne eine Überfülle an Verlangen danach. Wenn das Sammeln selbst zum Sinn und Zweck des Lebens wird, verlieren wir uns im Auf und Ab des Ertrags. Das gilt nicht nur für Ernten, sondern für alles, was wir uns ansammeln: akademische Titel, Autos, Kleidung, Preise, Instagram-Bilder und vieles mehr. All das macht keinen Unterschied bei Gott. Es hat für Gott keinen Wert, was wir gesammelt haben. Gott sieht uns nackt – als seine geliebten Geschöpfe.
Ich verstehe die Warnung Jesu so: Überprüfe deine Ziele und Ambitionen und mache dich nicht von ihnen abhängig. Lasse deine Erfolge und Niederlagen nicht bestimmen, ob dein Leben gut und lebenswert ist. Lasse dich nicht verzehren von Sorgen und Ängsten über die Früchte der Zukunft, die wir eh nicht in den Händen halten.
Der reiche Grundbesitzer überlegt: Wenn ich erst genug gesammelt habe, dann kann ich glücklich sein. Erst wenn er sich für viele Jahre abgesichert weiß, will er sein Leben genießen und sich erleichtert zurücklehnen. Nicht selten überlege ich: Wenn ich dies oder jenes geschafft habe, dann wird es besser, dann geht es mir gut und dann kann ich glücklich sein. Doch wann kann man glücklich sein, wenn man das Glück stets hinter dem nächsten erreichten Ziel ersehnt?
Ich wünsche uns, dass wir keine Narren sind und uns im hier und jetzt immer wieder sagen können: „Gönn dir Ruhe. Iss, trink und genieße das Leben!“
Pfarrerin Carina Pietscher