Große Kirche Oberkassel | Kurzbeschreibung
Pfarrer Ludwig Fromme schrieb zur Weihe des neuen Gotteshauses am Dienstag, dem 3. November 1908 eine Festschrift mit dem Titel: „Eine alte und eine neue Dorfkirche am deutschen Rhein.“ Darin nennt er als Losung für den Neubau der Kirche das Psalmwort: „Singet dem Herrn ein neues Lied!“
Am 25. März 1905 hatte sich die größere Gemeindevertretung zum ersten Mal mit der Kirchenbaufrage beschäftigt, nachdem auch das Kgl. Konsistorium in seinem Bescheid auf die Notwendigkeit eines Neubaus hingewiesen hatte. Unter anderem sollte der Neubau den Charakter einer Predigtkirche erhalten, d.h. die Kanzel sollte derart angebracht werden, dass sie von allen Plätzen aus sichtbar ist. Auch sollte auf die Erreichung einer guten Akustik besondere Sorgfalt verwendet werden, so die Anforderungen.
Da die Orgel so gut wie die Kanzel und der Altar zu den unentbehrlichsten Stücken einer evangelischen Kirche gehört, sollte sie im Angesicht der Gemeinde angeordnet werden. Im großen Kirchturm sollten 3 Glocken hängen und er sollte einen Umgang erhalten, sodass Choralmusik oder Chorgesang vom Turm herab erklingen kann.
Die Grundsteinurkunde, die mit einigen Zeitungen und Geldstücken in eine Metallkapsel gelegt, verlötet und in den Grundstein eingemauert wurde, liegt unterhalb der später errichteten Kanzel. Auf ihr steht folgender Segenswunsch: „Möge auch dieses neue Gotteshaus, das sich über diesem Grundstein erheben soll, für die evangelische Gemeinde Oberkassel von Geschlecht zu Geschlecht eine Stätte reichsten Segens werden, wie es das alte Kirchlein über 200 Jahre gewesen ist. Das walte Gott!
Obercassel im Siegkreis, den 28. Juli 1907“
Bei der Anordnung von Altar, Kanzel und Orgel wurde – bewusst oder unbewusst – dem sogenannten Wiesbadener Programm gefolgt. Dieses enthält das reformierte Erbe, nach dem Altar, Kanzel und Orgel als eine Verkündigungseinheit gelten sollen. Im lutherischen Bereich wird dagegen der Altar freistehend im Sinne der Akzentuierung des Sakraments gestaltet, während die Kanzel mehr an die Seite gerückt ist und die Orgel auf der rückwärtigen Empore ihre Position erhält.
Schlichtheit, Zweckmäßigkeit und Sachlichkeit prägen den Grundriss des renommierten Architekten Otto March. Es ist ein Saalbau mit Turm an der Südseite, den in der Flucht des Kirchenschiffs Eingangsbauten mit Säulen und geschweiften Dächern vor den Türen flankieren. Am westlichen Eingangsbau kragt der Aufgang zur Empore und zum Glockengeschoss des Turms vor. In Umsetzung des Wiesbadener Programms, wonach die Einheit der Gemeinde und der Grundsatz des allgemeinen Priestertums durch die Einheit des Raums zum Ausdruck kommen soll, wird auf eine Teilung des Raums in mehrere Schiffe verzichtet.
Das „Christliche Kunstblatt“ schrieb über den Neubau der „köstlichen Dorfkirche“: „Aus kunstgeschichtlicher Sicht darf man urteilen: Die Neue Evangelische Kirche ist ein bedeutendes Zeugnis für den Anspruch und das Vermögen des Baumeisters Otto March, evangelisches Selbstverständnis für Gegenwart und Zukunft in einer künstlerisch bis in die Details überlegten Gestaltungsweise zu visualisieren. … Auch im Kontrast der weißen Putz- und der Schieferflächen spürt man die Hand des sicher gestaltenden Architekten.“ Bewusst wurde auf Anleihen bei historischen Stilformen der Romanik und Gotik verzichtet. Der zur Bauzeit der Kirche herrschende Jugendstil – Otto March konnte sich für ihn nicht erwärmen, nannte ihn eine flüchtige „Manier der Laune“ – beschränkt sich auf Stand- und Wandleuchter.
Mitte der 60er Jahre erhielt die Kirche nach Ausbesserungen der Kriegsschäden einen neuen Anstrich in Dispersionsfarbe. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass diese Farbe wohl ungeeignet war. Die Schwierigkeiten mit dem Außenanstrich konnten nur dadurch beseitigt werden, dass der gesamte Außenputz an der Kirche abgeschlagen und ein neuer Anstrich in natürlichen Mineralfarben aufgebracht wurde. Auch wurde das Dach mit neuen Naturschiefern eingedeckt.
1975 wurde die Kirche als „denkmalpflegerisch wertvoll“ anerkannt. Ein Jahr später musste sie wegen Einsturzgefahr geschlossen. Im Zuge der Sanierungsarbeiten mussten die ganzen Gewölbebögen freigelegt, durch stählerne Zuganker zusammengehalten und die Mauerfugen durch einen Spezialmörtel neu verfestigt werden. Kanzel, Altarbereich und das Holzwerk erhielten wieder eine der Jugendstil-Epoche nachempfundene Ausmalung.
Walcker-Orgel
1908 wurde die ursprüngliche Orgel von der weltweit agierenden Orgelbauanstalt Walcker aus Ludwigsburg gebaut. 1967 erhielt die Orgelbaufirma Peter den Auftrag, den Spieltisch von der Orgelempore mittels elektrischer Traktur auf die Turmempore zu verlegen. Es kam zu Tonverzögerungen. Auch deshalb entschied sich das Presbyterium 1972 zur Verlegung der Orgel auf die rückwärtige Empore. Beim Umbau durch die Firma Peter wurde Pfeifenmaterial der Walcker-Orgel mit verwendet. Das war zur damaligen Zeit sehr unüblich, da man in den 70er Jahren das Klangideal der Romantik als zu weich empfunden hatte. Für uns heute ist es jedoch ein großes Glück, dass sowohl das Gehäuse, viele Pfeifen sowie weitere Teile der Orgel, wie z.B. die Windladen, erhalten sind.
Bei einer Standardüberprüfung der Peter-Orgel im Jahr 2017 warf einer der Orgelbauer einen neugierigen Blick in die alte Walcker-Orgel und stellte zum einen leider fest, dass die Orgel von Schimmel befallen ist, zum anderen aber, wie viel noch von dieser Orgel erhalten ist.
Und so nahm die Geschichte ihren Anfang und ihren Lauf, auch wenn zunächst gar nicht eine Restaurierung des alten Instrumentes an vorderster Stelle stand. Nach vielen Gesprächen und Recherchen erstellte Manfred Schwartz, Orgelsachverständiger der Ev. Kirche im Rheinland, schließlich nicht nur für die Peter-Orgel, sondern auch für die Walcker-Orgel erst ein Gutachten und dann ein Leistungsverzeichnis. So kam es dann im Sommer 2020 zu einem Ausschreibeverfahren und wir sind sehr glücklich, mit der Firma Weimbs aus Hellenthal/ Eifel einen kompetenten Partner an unserer Seite zu haben, der uns dieses historische Instrument restauriert hat.
Zu Pfingsten 2022 erklang die Walcker-Orgel erstmalig wieder. Dies gelang nur mit finanzieller Hilfe von Bund und Land und vielen Spendern vor Ort. Die Peter-Orgel auf der Turmempore wurde einige Monate später abgebaut und kann an anderen Orten neu erklingen.